Wissen und Unwissen 3

HOMO SAPIENS UND VERWANDTE

Ohne die theoretische Forschung, ohne den genialen Erfindergeist mancher Pioniere würde es all die technischen Errungenschaften, die uns heute das Leben erleichtern, nicht geben. Dank unseres Wissens können wir heute all unsere Konsumgüter herstellen, Krankheiten heilen, Nahrungsmittel und (leider auch) Massenvernichtungswaffen produzieren. Die Technikentwicklung ging Hand in Hand mit der biologischen Entwicklung des Menschen, insbesondere mit dem Wachstum des Hirnvolumens. Vor etwa 3 Mio. Jahren begannen die Vormenschen steinerne Werkzeuge herzustellen, das Feuer zu beherrschen, Waffen anzufertigen. Später kamen dann Ackerbau, Viehzucht und Metallurgie hinzu. Monumente wurden errichtet, denen bereits mathematische Überlegungen zugrunde lagen. Die Schrift wurde erfunden, womit sich das Wissen verbreiten konnte. Es entstanden Dorfgemeinschaften, Städte, Staaten, Hochkulturen.


Vom Standpunkt der Genetik unterscheidet sich der Mensch kaum vom Schimpansen: 98,5% des Erbgutes sind identisch. Mit einer Maus liegt die Übereinstimmung noch bei 85%. Tiere sind zumindest ansatzweise fähig zu abstraktem Denken, sie benutzen Werkzeuge, errichten Wohnbauten, sind in Staatengemeinschaften organisiert. Bienen, Ameisen, Termiten leben in Kolonien mit präziser Arbeitsteilung. Ameisen züchten sogar Pilze für den Verzehr, Termiten bauen ausgeklügelte Belüftungsanlagen, Biber fertigen Staudämme an. Der in Ostafrika lebende Nacktmull, ein rattenähnliches Säugetier, lebt in unterirdischen Kolonien. Wie bei den Bienenvölkern existiert auch hier eine Königen, die für den Nachwuchs sorgt. Die Tiere sind nackt und fast blind, verfügen aber über Sinneshaare welche ihnen ermöglichen, in der Dunkelheit der weitverzweigten Gangsysteme zu „sehen“. Viele andere Tiere verfügen ebenfalls über Wahrnehmungsorgane, die bei den Menschen nicht vorkommen. So können sich Zugvögel am Magnetfeld der Erde orientieren. Hammerhaie nehmen elektrische Felder wahr. Fledermäuse und Zahnwale orientieren sich bei Dunkelheit durch Echoortung, indem sie aktiv Schallwellen aussenden, dessen Echo aufnehmen und anschliessend auswerten.


Alle Tierarten leben in der uns bekannten Welt, und doch lebt jede Art in ihrer eigenen Welt, entsprechend den Wahrnehmungsorganen mit denen sie ausgestattet ist. Die Welt eines Nacktmulls ist anders als die Welt einer Garnele und anders als diejenige des Menschen. Dank seines Abstraktionsvermögens, dank seiner Technik hat es der Mensch geschafft, die Begrenzungen seiner Wahrnehmungsorgane zu überwinden und Aspekte der Welt zu „sehen“, die ihm sonst verborgen blieben. Spezielle Teleskope ermöglichen das Sichtbarmachen von Röntgen, Ultraviolett und Infrarotstrahlungen. Die Rastertunnelmikroskopie veranschaulicht atomare Prozesse, die Computertomografie stellt das Innere von lebenden Organismen bildlich dar. Sogar „Geisterteilchen“ wie Neutrinos können durch aufwändige technische Einrichtungen erfasst werden. Die im Jahre 1977 gestarteten Weltraumsonden Voyager 1 und Voyager 2 haben die äusseren Planeten und ihre Monde erforscht und den Kenntnisstand des Sonnensystems innert kurzer Zeit um ein vielfaches gesteigert. Die Sonden sind gegenwärtig immer noch funktionsfähig. Mit der zwanzigfachen Geschwindigkeit einer Gewehrkugel rasen sie durch das Weltall. Als erste menschliche Erzeugnisse haben sie das Sonnensystem 2012, resp. 2018 verlassen und sind in den interstellaren Raum vorgedrungen. In 40'000 Jahren wird sich Voyager 1 einem fremden Sternsystem nähern…


Spätestens hier stellt sich die Frage des Warums und die Frage des Wertes eines solchen Wissens. Was Forscher antreibt ist sicher die Neugierde, der Wissensdrang, vielleicht auch die Hoffnung, eine massgebliche Entdeckung zu erreichen und somit zu Ruhm und Ehre zu gelangen. Ist es vorstellbar, dass es irgendwann einen Stopp der Wissensexplosion geben könnte? Dies kann sehr wohl der Fall sein, denn bei vielen Disziplinen können Fortschritte heute nur noch dank enormer Apparaturen, die sehr viel Geld kosten, erreicht werden. Und was ist der Nutzen von Wissen? Nun, sicher Mal die Befriedigung eines menschlichen Bedürfnisses (Neugierde, Wissensdrang) und eine Verbesserung der Lebensbedingungen vieler (nicht aller) Menschen. In diesem Sinne kann man wohl sagen, dass naturwissenschaftliches Wissen ohne Zweifel nützlich ist. Im Vergleich zu Tieren haben sich beim Menschen das Abstraktionsvermögen, das Wissen, die Technik innerhalb weniger Millionen Jahre immens entwickelt. Aber letztendlich ist dies nur ein quantitativer Unterschied. Denn wer kann behaupten, dass nicht auch andere Tierarten eine derartige Entwicklung durchleben könnten? Dass z. B. Wespen, Delphine oder Kraken ebenfalls eine höhere Intelligenz und eine Technologie entwickeln könnten? Die Paläontologie zeigt auf, dass Organismen innert weniger dutzend Millionen Jahre gewaltige Metamorphosen durchlaufen können. Vor 65 Millionen Jahren waren unsere Vorfahren lediglich mausgrosse nachtaktive Säuger, tonnenschwere Wale entwickelten sich aus landlebenden Urpferden. Heisst Menschsein „nur“ ein hochentwickeltes Tier zu sein oder bedeutet Menschsein mehr? „Jetzt, in der menschlichen Lebensform, ist die Zeit gekommen, das Absolute zu erforschen" (athato brahma jijnasa) lehren uns die Veden. Aus der Sicht des Vedanta gibt es noch eine andere Wissensform, eine spezifisch menschliche: Das Wissen zur Erlangung des Absoluten.

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