Das im Himalaja gelegene Königreich Bhutan gehörte lange Zeit zu den abgeschiedensten und von den Einflüssen der modernen Zeit am wenigsten berührten Ländern der Welt. Die Erbmonarchie, die bis vor kurzem von König Jigme Singye Wangchuk repräsentiert wurde, verfolgte während Jahrzehnten eine Politik der Abschottung und der "sanften" Entwicklung. Dieser Isolationismus wurde mit der Furcht eines Souveränitätsverlustes an die beiden mächtigen Nachbarn Indien und China begründet, aber auch mit der Bewahrung der jahrhundertealten Kultur und dem Schutz der Natur des Landes.
Der König setzte auf Schulbildung für die weitgehend bäuerliche Bergbevölkerung und liess nur eine sehr behutsame Verbesserung ihrer Lebensumstände zu. Ehrgeizige Modernisierungspläne mit raschen technologischen Fortschritten waren nicht nach seinem Geschmack. Zur Gewinnung ausländischen Fachwissens wurden daher Käser, Förster und Agronomen ins Land geholt. Den Vertretern internationaler
Finanzinstitutionen blieb der Zugang verwehrt. So erleichtern heute viele Hängebrücken den Fussgängerverkehr in den abgelegenen Bergtälern - die Hauptstadt Thimbu wiederum rühmt sich dafür, als weltweit einzige Kapitale ohne Verkehrsampeln auszukommen. Die 700'000 Bewohner des Landes mussten bis zum Sommer 1999 auch auf ein eigenes staatliches Fernsehen verzichten. Der Empfang ausländischer Programme ist bis heute eingeschränkt. Das Land hat sich mit hohen Tagespauschalen überdies erfolgreich vor den Segnungen des Massentourismus geschützt. Jährlich können maximal 5'000 Touristen das Land besuchen. Heute hat sich die Lebenserwartung verdoppelt, 110'000 Kinder gehen zur Schule - ein Sechstel der Bevölkerung und damit beinahe alle schulpflichtigen Jahrgänge. Die Gesundheitsversorgung ist für alle Bewohner kostenlos, die Erziehung wird vom Staat bezahlt, Telefon, Elektrizität und Landwirtschaft werden subventioniert. Die grosse Mehrzahl der Bhutaner sind heute Besitzer ihres Bodens, der ausreichend Ertrag zum Überleben abwirft, ohne dass sie dazu die Wälder angreifen müssen, die zwei Drittel des Landes bedecken. Das Bruttosozialprodukt beträgt offiziell 650 Dollar pro Kopf, und wenn man den substanziellen Anteil des Tauschhandels dazuzählt, steht Bhutan heute an der Spitze aller südasiatischen Länder. Dies wurde erreicht ohne die hohen "Fixkosten" üblicher Entwicklungsprozesse wie Umweltbelastung, Urbanisierung und Nuklearisierung der Familienstrukturen.
Der grüne Sektor geniesst in Bhutan einen hohen Stellenwert: Im Gegensatz zu seinen Nachbarländern verfügt das "Drachenland" noch über eine weitgehend intakte Natur. Umweltverschmutzung ist hier praktisch unbekannt. Zum Schutz der Wälder wurden strenge Gesetze erlassen: In Bhutan ist zum Beispiel die Ziegenhaltung verboten, da diese gefrässigen Tiere eine Gefahr für das labile Gleichgewicht der Gebirgswälder darstellen. Die Holzwirtschaft untersteht einem nationalen Management-Plan. Nutzungsrechte werden nur sehr restriktiv und in erster Linie für den Eigenbedarf erteilt, obschon Holz in den Nachbarländern Indien und Bangladesh teuer verkauft werden könnte. Geld im buddhistischen Bhutan könnte den Verlust der Lebensvielfalt und des ökologischen Gleichgewichts niemals aufwiegen. Erklärtes Ziel der Landesregierung ist es, den Waldbestand nicht unter 60 Prozent der Landesfläche fallen zu lassen. Mit Ausnahme von Treibstoffen (Fahrzeug- und Flugverkehr) deckt Bhutan seinen Energiebedarf gänzlich mit erneuerbaren Energien (Wasserkraft und Holz) und ist diesbezüglich autark. Zwei Drittel des produzierten Stroms wird nach Indien exportiert.
Die Königliche Regierung Bhutans unternimmt beträchtliche Anstrengungen, die wirtschaftlichen Grundlagen des Staates zu erweitern und die Sozialleistungen zu verbessern. Neben der gezielten Förderung der 13 traditionellen Handwerkskünste forciert die Regierung die Entwicklungs-zusammenarbeit mit westeuropäischen Staaten, insbesondere bei der Verwirklichung von Infrastruktur- und Bildungsprogrammen. Besondere Schwierigkeiten bereitet aufgrund des gebirgigen Terrains der Strassenbau; nur knapp 2000 von insgesamt 3300 Kilometern Überlandstrasse in Bhutan sind asphaltiert. Die nationale Fluglinie Druk Air fliegt hauptsächlich überregionale Destinationen wie Katmandu oder New Delhi an, Eisenbahnen gibt es keine. Die Industrie ist in Bhutan wenig entwickelt, nur zwei Prozent der Bevölkerung sind in diesem Bereich tätig. Schwerpunkte der Produktion sind Zement, Holzwaren, alkoholische Getränke und Kalziumkarbid. Aufgrund der geringen Einbettung in der Weltwirtschaft und den internationalen Finanzmärkten ist Bhutan weitgehend in der Lage, die Richtung und das Tempo seiner Entwicklung selber zu bestimmen. Grundpfeiler der bhutanischen Wirtschaft sind die Land- und Forstwirtschaft sowie die Viehzucht. Hier sind nach wie vor 90 Prozent der Bevölkerung tätig. Die meisten bäuerlichen Haushalte produzieren vorwiegend für den Eigenbedarf. Der produktive Sektor wird durch die traditionellen "dreizehn Handwerkskünste" dominiert.
"Gross National Happiness", so will es der König, soll das Bruttosozialprodukt der Ökonomen und den "Human Development Index" der Uno ersetzen, weil diese die Errungenschaften Bhutans nicht adäquat spiegelten. 30 Personen hatten sich im März 1999 zusammengesetzt, um damit zu Rande zu kommen. Alle Teilnehmer anerkannten, dass das Konzept profund sei; sie hatten aber Mühe, ihm auf den Grund zu kommen. Dabei umfasst es nichts weiter als die Ziele, die der König seit 25 Jahren in Bhutan zu erreichen versucht: ein armes Land, das aber glücklich ist, weil es eine Armut der Selbstbeschränkung und der bäuerlichen Einfachheit ist. Dies ist gekoppelt mit einer gesicherten Ernährung und garantierter Schulbildung, mit einer sauberen Umwelt, sauberer Regierungsführung und kultureller Vitalität. Niemand leugnet heute, dass Wangchuk ein grosses Stück dieses Wegs zurückgelegt hat. Er tat dies mit einer einzigartigen Mischung von autoritärer Macht und demokratischer Partizipation, von Abschottung und selektiver Öffnung, von wirtschaftlichem Dirigismus und freien Marktnischen. Wie weit Bhutan dabei gekommen ist, darüber mögen die Meinungen anderswo auseinander gehen, nicht aber unter den Drukpas, der dominierenden Volksgruppe in Bhutan. Die Popularität der Herrschaft des Königs zeigte sich letztes Jahr, als er seine absolute Macht freiwillig dem Parlament unterordnen wollte. Erst nach wochenlangen Protesten konnte er eine Verfassungsänderung durchsetzen, gemäss welcher der König vom Parlament abgesetzt werden kann. Im Dezember 2004 geriet Bhutan international in die Schlagzeilen, da es als erstes Land auf der Welt den Verkauf von Tabakwaren und das Rauchen auf öffentlichem Grund verbot.