Das Kernthema vom Yoga ist der Begriff der Wirklichkeit. Was die Empfindung von Wirklichkeit anbetrifft, bedarf wohl keiner grossen Kommentare: Wir erleben unsere Existenz, die Welt um uns herum als wirklich. Wäre dies nicht der Fall, so würden wir vermutlich an Derealistion, einer psychischen Störung, leiden. Die Tatsache, dass gewisse Menschen dieses Krankheitsbild aufweisen, ist Beweis genug, dass einem diese so selbstverständliche Empfindung abhanden kommen kann. Sie kann uns nicht nur abhanden kommen, sondern auch eine Illusion als wirklich erscheinen lassen, wie dies im Wahnerleben der Fall ist.
Nehmen wir das Beispiel eines Schauspielers, der jeden Abend auf der Bühne die Rolle des Königs in Shakespeares Drama „Der König Lear“ verkörpert. Die Vorstellung isr sehr erfolgreich und dauert bereits seit Jahren an. Jeden Abend spielt der Schauspieler diese Rolle. Zum Schluss weiss er den Unterschied nicht mehr zwischen seiner Privatperson und dem König: Er hat sich völlig mit der Theaterrolle identifiziert, ist nicht mehre in der Lage, diese von seinem Privatleben zu trennen: Er fühlt und benimmt sich tatsächlich, als sei er der König Lear. Dieses Krankheitsbild gibt es wirklich: Es gibt Menschen, die überzeugt sind, beispielsweise Napoleon oder ein Messias auf göttlicher Mission zu sein!
Während wir träumen entsteht eine Traumwelt welche wir - während wir träumen – als genau so real erleben wie der Wachzustand. Es ist uns also möglich, in einer ganz anderen Welt mit ganz anderen Regeln zu leben und diese als vollkommen real wahrzunehmen – so lange wir uns in dieser Welt befinden. Somit ist das Wirklichkeitsempfinden eine Eigenschaft des Bewusstseins. Wir scheinen keinen Einfluss darauf haben zu können, ob wir etwas als wirklich oder unwirklich erleben. Die Mandukya Upanishad beschreibt die drei Existenzformen des Tiefschlafs, des Traumschlafs und des Wachzustands und fügt eine weitere hinzu: Turiya oder Erlösung. Die Erlösung wird als „Erwachen“ aus dem uns bekannten Wachzustand erklärt, genauso wie man vom Traumschlaf in den Wachzustand erwacht. Diese Erkenntnis ist haarsträubend, Schwindel erregend, von unglaublicher Tragweite, eine Revolution des Denkens! Denn Moksha ist eine ganz neue Existenzform, in dem alles, was wir sind, wissen, wahrnehmen, in eine vierte Dimension des Bewusstseins transzendiert wird. Moksha ist die Erlösung, der Endzustand, nach dem es nichts mehr gibt. Nirwana – eine andere Bezeichnung für Moksha – bedeutet: Es ist vollendet. Dort gibt es keine Fragen mehr, keine Suche mehr, es ist die Überwindung von Raum und Zeit, die Aufgabe des Individuums, der Eintritt in eine universelle Existenz.
Sellen Sie sich vor, Sie schlafen und träumen von einem fernen Land, in dem Sie eine Reise angetreten haben. Es könnte ein Wüstenland sein. Sie befinden sich in einem Auto auf einem kaum erkennbaren Sandpfad und werden plötzlich von vermummten Gestalten angehalten. Sie werden festgenommen, all ihre Identitätspapiere, ihr Geld, ihre Kreditkarten, ihr Pass, ihr Handtelefon werden ihnen gestohlen, sie werden abgeführt. Die Bedrohung ist unmittelbar, es ist niemand da, der Ihnen zu Hilfe eilen könnte. Sie sind diesen Unbekannten in einer fremden Welt völlig ausgeliefert. Was man dabei wohl fühlen mag, erübrigt sich jeden Kommentars: Sie haben einen Albtraum. Ist dieser real? Solange Sie träumen, ohne Zweifel. Aber wie kommen Sie aus dieser Situation heraus? Nehmen wir weiter an, sie verbringen die Nacht gefesselt in einer dunklen Höhle, es nähert sich Ihnen eine alte Frau, die Ihnen wohlgesinnt zu sein scheint. Sie kennt Ihre Sprache und weist Ihnen einen Weg aus dieser bedrohlichen Situation. Sie flüstert Ihnen zu: „Wachen Sie auf!“ Würden Sie dies verstehen? Nein, sie würden es (im Traum) nicht verstehen, sondern Sie würden hoffen, dass man Ihnen die Fesseln abnimmt und Sie an einem sicheren Ort führt.
Dieselbe Schwierigkeit liegt im Vermitteln von dem, was Moksha ist. Wenn Sie Ende Monat Ihre Rechnungen nicht bezahlen können, erwarten Sie vielleicht einen Lottogewinn. Wenn Ihnen dann aber jemand sagen würde: "Wachen Sie in die vierte Dimension des Lebens auf", würden Sie wohl denken, dass diese Person nicht mehr alle Tassen im Schrank hat. Yoga wird als „Trennung von Schmerz“ definiert. Moksha ist Satchidananda, Existenz, Wissen und Glückseligkeit. Moksha ist die Überwindung der Zyklen der karmischen Wiedergeburten. Wir können uns schlecht einen Zustand vorstellen, in dem all unsere Lebensprobleme gelöst wären. Natürlich werden sie nicht so gelöst, so wie wir es uns vorstellen. Für viele Menschen ist dies nicht erstrebenswert, denn sie lieben das Drama des Lebens, zumindest wenn es Ihnen gut geht. Es sollte nicht die Vorstellung aufkommen, dass Moksha eine Flucht aus dem Leben ist, ein Entweichen in ein ätherisches Nichts. Der Eintritt in die vierte Dimension der Existenz ist eine Daseinsform mit einer gänzlich anderen Perspektive. Nichts geht verloren, im Gegenteil. Man befindet sich in unmittelbarer Wahrnehmung der wahren Essenz der Dinge, der Originale. Was aufgegeben wird, sind verunstaltete Kopien. Dies ist nicht einfach zu begreifen. Die Phänomenale Welt wird als Maya – eine Täuschung – bezeichnet.
Das in Indien oftmals zitierte Beispiel ist dasjenige vom Seil und der Schlange: Sie spazieren bei Dämmerlicht in einem Wald, sagen wir in Indien selber (in unseren Breitengraden wäre diese Geschichte unwahrscheinlich). Plötzlich erblicken Sie auf dem Waldweg, direkt vor Ihnen, eine in sich selber aufgerollte Schlange. Sie erschrecken, der Atem stockt Ihnen, sie bekommen Herzklopfen. Blitzschnell überlegen Sie, wie Sie sich am besten verhalten sollen: Still stehen bleiben, schnell davon laufen? Sie halten eine Zeit lang inne, beobachten, ob sich die Schlange bewegt. Sie bewegt sich nicht. Ist sie vielleicht tot? Sie trauen sich, etwas näher hinzuschauen und entdecken… dass es gar keine Schlange ist, sondern ein Seil! Die Schlange war für Sie Wirklichkeit, solange Sie die Schlange sahen. Im Moment, in dem Sie das Seil erblicken, erweist sich die Wirklichkeit als Fiktion. Diese verschwindet im Lichte der neuen Erkenntnis. Gibt es einen Grund, dieser Fiktion nachzutrauern? Haben Sie etwas verloren, als Sie das Seil erkannt haben?