Vortrag von Swami Krishnanada vom 25. April 1977, frei ins Deutsche übersetzt
Der grosse buddhistische Gelehrte Nagarjuna schrieb einmal: „Wo Samsara ist, da ist Moksha und wo Moksha ist, da ist Samsara“. Was wir als Unfreiheit bezeichnen ist Freiheit und was wir als Freiheit bezeichnen ist Unfreiheit. So ist es nicht notwendig, der Unfreiheit zu entkommen um Freiheit zu erlangen, man muss nur verstehen, was Unfreiheit ist und man ist auf der Stelle frei. Insofern ist Moksha nicht eine Bewegung von einem Zustand der Unfreiheit zu einem Zustand der Freiheit, von der Welt zu Gott, es ist ein Erwachen. Es gibt nichts, was wir in dieser Welt zu tun haben, wir müssen nur verstehen. Keine Umwandlung ist notwendig, keine Entwicklung, keine Revolution des Denkens. Es ist reines Erwachen, das Aufgehen des Lichts des Wissens. Nichts geschieht mit der Welt wenn Sie frei sind. Die Welt bleibt dieselbe. Nichts geschieht sogar mit Ihnen selbst. Aber eine gewaltige Metamorphose findet statt auf einer völlig anderen Weise und zwar in einer vierten Dimension, wie die Wissenschaft es bezeichnen würde. Anstatt in einer dreidimensionalen Welt zu leben, treten sie ein in eine vierdimensionale Ewigkeit! Unsere dreidimensionale Existenz wird durch das Licht des vierdimensionalen Bewusstseins erleuchtet. In der Sprache der Mandukya Upanishad handelt es sich um eine Erhebung des Individuums aus den drei Zuständen des Tiefschlafs, des Traums und des Wachzustands in den vierten Zustand – Turiya genannt. Sie gehen nirgendwo, keine Reise ist erforderlich, nichts geschieht schlussendlich. Was geschieht mit Ihnen, wenn Sie morgens aufwachen? Sie haben sich nicht an einem anderen Ort begeben, Sie sind keine andere Person geworden, aber eine gewaltige Veränderung hat in Ihnen stattgefunden. Es scheint, als wären Sie in eine andere Wirklichkeit befördert worden. Aber was ist der Unterschied zwischen Tiefschlaf, Traum und Wachzustand? Es ist dasselbe, anders betrachtet. Dasselbe, was vorher als Traum erschien, erscheint nun als Wachzustand. Sie haben den Blickwinkel geändert, die Art wahrzunehmen und zu erfahren.
Dies ist für den menschlichen Verstand schwer nachzuvollziehen. Wegen dieser Schwierigkeit des Denkens haben Religionen versagt, sind Philosophien erfolglos geblieben, sind Philanthropen gescheitert, hat sich die Geschichte über Jahrhunderte hinweg nach demselben Muster wiederholt. Alle menschlichen Bemühungen scheinen gescheitert zu sein, und zwar nur wegen eines kleinen Denkfehlers! Nun taucht aber eine wesentliche Frage auf: „Ja wir haben die Lage erkannt - aber gibt es einen Ausweg?“ Sogar Meister Shankara konnte diese Frage nicht beantworten. Wenn der Weg in Ihrem mentalen Auge sichtbar wird, ist dies der einzige Ausweg. Man weiss aber nicht, wie es tatsächlich passiert. Shankara stellt in einem Kommentar der Brahma Sutras die Frage: „Wie kommt dieses Wissen in einer Person auf?“ Kommt es von Büchern, kommt es von Gelehrten, ist es die Folge von Lebenskrisen, ist es der Wille Gottes oder ein Gnadenakt Gottes? Man kann nicht sagen, dass Wissen durch eigene Bemühungen aufkommt, denn diese Bemühungen werden durch bereits vorhandenes Wissen beeinflusst. So ist es nicht möglich, sich für etwas zu bemühen, was das eigene Wissen transzendiert. Insofern ist es schwierig zu behaupten, dass eigene Bemühungen die Ursache von Wissen sind. Auch stimmt es nicht, dass die Schwierigkeiten des Lebens alleine die Ursache von Wissen sein können. Viele Menschen erleiden harte Schicksalsschläge, werden dadurch aber nicht weiser.
Nun, ist es eine Laune Gottes, dass Er uns plötzlich Wissen vermittelt? Dies ist schwierig zu sagen, vielleicht, vielleicht auch nicht. Es gibt keine Antwort. Die Antwort ist, dass es geschieht. Plötzlich wacht man auf. Wie ist das Aufwachen passiert? Wer hat Sie aufgeweckt? Gott, der Mensch, Ihre Bemühungen, Ihre Studien? Nichts dergleichen. Man kann nicht sagen, wie man aus dem Schlaf aufwacht. Etwas geschieht und dieses Geschehnis führt zum Aufwachen. Es ist eine Mischung, eine Kombination, eine Koordination von verschiedenen Faktoren. Gott spielt eine Rolle, der Mensch spielt eine Rolle, die Gesellschaft spielt eine Rolle, Ihre Bemühungen spielen selbstverständlich eine Rolle, der evolutionäre Druck spielt auch eine Rolle. All dies wirkt zusammen im Vorbringen des Erwachens, dieses gewaltigen universalen Effekts. Es bleibt uns also nicht anderes übrig als zu warten, wie ein Angestellter, der auf seinen Lohn wartet. Es gibt nichts was wir tun könnten, ausser den Ersten des Monats abzuwarten, um den Lohn zu kassieren. Wenn der Erste des Monats kommt… wenn der Erste des Monats kommt… wenn der Erste des Monats kommt… dann werde ich meinen Lohn erhalten. Sie warten und warten, aber rein aufgrund der Tatsache dass Sie warten, wird der Erste nicht schneller kommen. Nun, wie auch immer, Sie erwarten ihn und er wird kommen, zur rechten Zeit werden Sie ihn bekommen.
Wenn man ehrlich danach strebt, dann wird einem gegeben. „Bittet und es wird Euch gegeben“. Ihre Seele sollte um Erkenntnis für dieses grosse Wissen bitten. „Bittet und es wird Euch gegeben“. Aber wie lautet die Bitte? Sie wissen nicht, um was gebeten werden soll. Wie sollte dann eine Bitte überhaupt möglich sein? Sie können nur aufrichtig auf die Erleuchtung warten, damit Sie verstehen was es ist. Sie können nicht um Freiheit bitten – Sie wissen nicht, was Freiheit ist. Menschen verlangen Freiheit, ohne zu wissen was es ist. Sie können nicht frei sein, solange Sie sich in der Welt der Elemente bewegen, solange Sie Luft atmen, über die Sie keine Kontrolle haben, solange Sie abhängig von Wasser sind, über das sie keine Kontrolle haben, solange Sie Sonnenlicht benötigen, über das Sie keine Kontrolle haben. Wie können Sie behaupten, frei zu sein? So gibt es keine Freiheit für irgendeinen, der in der Welt lebt, auch gibt es die Freiheit nicht, der Welt zu entrinnen. Freiheit ist ein Erwachen in der Struktur der Welt selber.