GESELLSCHAFTEN IM VERGLEICH

Nachhaltigkeit

Artikel 73 der eidgenössischen Bundesverfassung verpflichtet Bund und Kantone zur Nachhaltigkeit, was eine schonende, verantwortungsvolle Nutzung von Ressourcen bezeichnet, die auch zukünftigen Generationen ermöglicht, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Die natürlichen Ressourcen dürften nur in dem Masse beansprucht werden, wie es die Erneuerungsfähigkeit der Ökosysteme erlaubt. Dies nicht nur aus Rücksicht gegenüber der zukünftigen Generationen, sondern auch um dem Kippen von subtilen ökologischen Gleichgewichten - die sich über Jahrmillionen eingependelt haben - zu verhindern. Im Gegensatz dazu steht die Verschwendung und kurzfristige Plünderung der Ressourcen.


Die Eidgenossenschaft - und die Erste Welt insgesamt - ist von diesem Ziel weit entfernt. Der Schweizer Mathis Wackernagel hat das Konzept des ökologischen Fussabdruckes entworfen. Darunter wird die Fläche auf der Erde verstanden, die notwendig ist, um den Lebensstil und Lebensstandard eines Menschen dauerhaft zu ermöglichen. Dies schliesst Flächen ein, die zur Produktion seiner Kleidung und Nahrung, aber auch zum Abbau des von ihm erzeugten Mülls oder zum Binden des durch seine Aktivitäten freigesetzten Kohlendioxids benötigt werden. Die Schweiz benötigt gemäss dieser Berechnung 2,6 Mal mehr Fläche, als ihr zustehen würde, die USA 5,3, China 0,8 und Bangladesh 0,3. Der weltweite Durchschnitt lag noch um 1975 im Gleichgewicht (beim Wert 1) und beträgt heute 1,35 - Tendenz weiterhin steigend. Diese Zahl ist nur deshalb noch relativ klein, weil die Mehrheit der Erdbevölkerung auf viel kleinerem Fuss lebt als der wohlhabende Teil der Ersten Welt. Würde der Rest der Welt auf demselben Standard leben wie die Schweizerinnen und Schweizer, bräuchte es 2,6 Planeten um die Nachhaltigkeit zu sichern. Trotz dieser Fakten wird "Wachstum" in der modernen Welt immer noch als Allheilmittel propagiert. Für Ökonomen sind Länder mit hohen Wachstumsraten Vorzeigebeispiele für erfolgreiches Wirtschaften. Auch für die Entstehung von Arbeitsplätzen wird Wachstum propagiert, obwohl in technologisch fortgeschrittenen Ländern gelegentlich auch von "jobless growth" (Wachstum ohne Schaffung von Arbeitsplätzen) die Rede ist. Die moderne Welt steht diesen Problemen hilflos gegenüber. Um das magische Wort weiterhin zu gebrauchen, wird zeitweise auch "qualitatives Wachstum" erwähnt, obwohl niemand recht weiss, was damit gemeint ist. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass wirtschaftliches Wachstum immer mit einem erhöhten Verbrauch von Energie und Ressourcen verbunden ist. Mittlerweile wird bereits ein beträchtlicher Teil des Volkseinkommens für diverse Reparatur- und Instandhaltungsarbeiten - durch Ökoschäden verursacht - eingesetzt. Diesbezügliche Versicherungsprämien steigen Jahr für Jahr. Naturkatastrophen kurbeln die Wirtschaft an, es werden Aufträge erteilt für die Bau- und Forstwirtschaft, für den Lärmschutz, für das Gesundheitswesen, usw.. Die Preise für Umweltgüter und Rohstoffe nehmen ebenfalls zu, wobei auch hier Geschäfte zu machen sind.


Vielleicht ist die Lage so, weil wir vergessen haben, dass wirkliches Wachstum emotionales und spirituelles Wachstum ist. Patanjali, der Begründer des Yoga-Systems, spricht hier Klartext: ohne das Fundament von Yama ist kein Fortschritt auf dem spirituellen Pfad zu erzielen, wobei in diesem Kontext besonders Ahimsa und Aparigraha Anwendung finden. Dies heisst im Konkreten nun nicht, dass jeder arm wie ein Mönch zu leben hat, sondern es geht um Zügelung der materiellen Bedürfnisse. Es heisst auch nicht unbedingt wenig Geld zu verdienen, sondern das zu nehmen, was man benötigt, und den Rest für gute Zwecke zu verschenken. Die Vorstellung, aus Geld Geld zu machen, ist ein Irrsinn, denn es bedeutet nichts anderes als die Vermehrung von Eigentum derjenigen, die schon viel haben, ohne jegliche Gegenleistung und auf Kosten anderer. Obwohl die moderne Zivilisation die Lebensmittelproduktion um ein Vielfaches gesteigert, unheilbare Krankheiten überwunden und Menschen auf den Mond geschickt hat, ist sie bezüglich Gesellschaftsentwurf nicht viel weiter entwickelt als die oben erwähnten einzelligen Algen. Vielleicht ist auch dies gerade der Grund, warum die "freie Marktwirtschaft" so gut funktioniert: Weil sie die Muster von biologischen Ur-Verhaltensweisen übernommen hat.


Länder wie Bhutan, Bevölkerungsgruppen wie die Andamaner oder die Semai zeigen auf, dass es auch andere Gesellschaftsentwürfe geben kann. Alle drei genannten Kulturen sind nachhaltig. Bhutan richtet sich als einziges Land der Welt offiziell nach dem Prinzip des "Bruttosozialglücks" aus, und nicht nach demjenigen des Bruttosozialprodukts. Dort gibt es genug Arbeit, das Handwerk wird als traditionelle Kunst praktiziert, Stress ist unbekannt. Die Andamaner leben seit Jahrtausenden auf engstem Raum, zurückgezogen auf ihren Inseln und könnten dies noch weitere Jahrtausende tun, würden wir sie nur lassen. Für sie gibt es weder das Konzept der Arbeit, noch des Handels, noch des Geldes. Der Güteraustausch, so bescheiden er ist, funktioniert nach dem Prinzip des Schenkens und Geschenktwerdens. Auch die Semai nutzen als Brandroder die Natur nur in dem Masse, in dem sie sich regenerieren kann. Würden wir uns nur ansatzweise im Klaren darüber sein, wie viele Zeitbomben mittlerweile in unserer modernen Welt ticken, müssten wir in aller Demut zugeben, dass uns diese Kulturen - trotz zweifelsohne vorhandener Schattenseiten - haushoch überlegen sind.

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