Reisebericht Bhutan

Aussergewöhnliche Rechtsordnung

Obwohl mir persönlich in Bhutan trotz oft materiell ärmlicher Verhältnisse, nur friedliche Menschen begegnet sind, dachte ich mir doch, dass es auch in diesem Land einige Leute geben müsse, die nicht „auf geraden Pfaden“ gehen. Zu meinem Erstaunen erfuhr ich, dass es in Bhutan als besondere Form der Gerechtigkeit gilt, dass jeder – ob arm oder reich – sich selbst verteidigt. Das bedeutet, dass es in Bhutan keine Rechtsanwälte gibt. Die Angeklagten suchen stattdessen kundige Helfer, die sie vor dem Prozess beraten und die nur im Hintergrund tätig sein dürfen. Man bezahlt sie dann auch nicht mit dem üblichen Zahlungsmittel Geld, sondern in Form von Naturalien wie Mais, Hühnern oder anderen Landesprodukten. Jede Vertretung vor Gericht, soweit sie nicht durch Familienangehörige erfolgt, ist verboten. Das Gerichtsverfahren ist mündlich und nimmt auf die Lebensgewohnheiten im Land Rücksicht. Die Beweiserhebung erfolgt vielfach an Ort und Stelle. Der Distriktrichter begibt sich zur Augenscheinnahme dorthin. Besonders gespannt war ich auf die Scheidungsrate und das Scheidungsrecht, denn ich wusste, dass es in Bhutan wohl die Polyandrie (Vielmännerei) wie auch die Polygamie (Vielweiberei) gibt. Tatsächlich stellte ich fest, dass die Scheidungsrate sehr hoch ist. Um sie nicht noch mehr steigen zu lassen, ist gesetzlich nach drei vorangegangenen Scheidungen eine Wiederverheiratung nicht mehr möglich! Die einverständliche Ehescheidung erfolgt durch Austausch von Scheidbriefen im Beisein von Familienmitgliedern als Zeugen. Kinder über 16 Jahren, die bei ihren Eltern leben, können frei wählen, bei wem sie nach der Scheidung bleiben wollen. Hat der Ehemann jedoch mehrere Frauen, so bleiben Kinder bei der geschiedenen und getrennt lebenden Mutter.


Tibetischer Buddhismus


C. G. Jung schrieb einmal über die Religion: „Der Mensch braucht unbedingt Vorstellungen und Überzeugungen, die seinem Leben einen Sinn geben und die ihn in die Lage versetzen, für sich einen Platz im Universum zu finden“. Die Bhutaner besitzen die Fähigkeit zu meditieren, zur Transzendenz, zur Kommunikation mit der Domäne des Jenseits, in der sich allein die Reinkarnation des Menschen vollziehen kann. Die Religion gibt ihnen einen Halt und den Mut zum Durchstehen in schwierigen Lebenssituationen. Die Lehre entstammt dem tibetischen Buddhismus aus der Kagyupa-Tradition, welche Anfang des 9. Jh. vom indischen Heiligen und Mystiker Padmasambhava von Indien über Tibet nach Bhutan gebracht worden und heute Staatsreligion ist. Bis jetzt wird sie in unveränderter Form praktiziert und gelebt. Nicht nur in den Dzongs, sondern auch in allen bhutanischen Häusern steht ein Altar. Noch bis vor kurzem war es üblich, dass jede Familie einen Sohn in die Gemeinschaft der Mönche sandte. Mönche bestimmen das ganze religiöse Leben von der Geburt bis zum Tod. Als Ausdruck für diese lebendige Religion werden die heiligen Stätten von alt und jung besucht. Die Zahl der wirklichen Mönche, das heisst jener, das heisst jener, die nach strengen Regeln in den Klöstern der Dzongs leben, beträgt 2’500 bis 3’000. Der Einfluss der religiösen Institutionen geht bis in die Politik hinein. 12 der 150 Mitglieder der Nationalversammlung entstammen gemäss Verfassung der Mönchsgemeinschaft. Das religiöse Oberhaupt, der Je Kempo, ist die einzige Person in Bhutan, die neben dem König die safranfarbene Schärpe tragen darf.


Ein naturverbundenes Volk


Fast die gesamte Bevölkerung in Bhutan lebt in Dörfern und Siedlungen, die zum grossen Teil an den Gebirgshängen gebaut sind. Die Landwirtschaft bildet die Grundlage der Ernährung, und der Grossteil der Bevölkerung ist dank ihr autark. So gibt es in Bhutan weder Hungersnot noch Bettler. Die Bauern produzieren hauptsächlich Reis, Mais, Weizen, Kartoffeln. Landwirtschaft ist bis hinauf auf 5’000 m ü. M. möglich. Im Süden wachsen Zitrus- und andere tropische Früchte, und in den höheren Gebirgslagen wird vor allem Viehzucht betrieben. In fast jeder Familie wird gewoben, eine Tochter beherrscht sicher dieses alte Handwerk und stellt die Stoffe für Kira und Kho her. Webstühle gehören zum Inventar. In jeder Familie gibt es einen oder zwei Handwerker. Sie üben die handwerkliche Tätigkeit neben ihrer eigentlichen als Farmer aus. Übrigens stellt jede Familie im Land ihre Handwerker zu gewissen Zeiten des Jahres für Arbeiten am Dzong oder sonst in der Gemeinde zur Verfügung.


Trotz materieller Armut ist dieses unbeschwerte und naturverbundene Volk äusserst gastfreundlich. Der Gast ist eine Form von Gott, als Gast wird man in den Dörfern Überall herzlich empfangen. Jeder Besucher wird entweder mit Buttertee oder mit Tschang, dem einheimischen Bier, begrüsst. Im Allgemeinen verbringen die Bhutaner viel Zeit zusammen, innerhalb der Familie, mit Nachbarn und Besuchern, da dies Unterhaltung und Information gleichzeitig bedeutet und da jeder jeden kennt. Die Herzlichkeit im Umgang miteinander, die Freundlichkeit auch fremden Besuchern gegenüber, die frohen Gesichter, die Selbstverständlichkeit mit der der Glaube an Buddha zum Leben gehört sind die eindrücklichsten Erinnerungen, die man von diesem Volk behält."


Text: Vijay Kumar Singh / Tages-Anzeiger

Bild: Jean-Marie Hullot - originally posted to Flickr as Cloud-hidden,

whereabouts unknown (Paro, Bhutan), CC BY-SA 2.0, 

https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4478062

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