Reisebericht Bhutan

"Ausgangspunkt für alle Reisen ins Landesinnere von Bhutan ist Phuntsholing, die Grenzstadt zum indischen Flachland. Da es im ganzen Land keine Eisenbahn gibt, wird in den frühen Morgenstunden die Busstation zum Brennpunkt der Ereignisse für alle Bhutan-Reisenden. Die Busreisen werden durch den staatlichen Bhutan Government Transport Service durchgeführt. Die Reisenden kommen scharenweise und werden von ihren Familienmitgliedern oder Freunden zur Station begleitet. Für unsere Begriffe undenkbar, dient der Passagierbus aber auch zum Transport von Lebensmitteln. Bei meiner Reise nach der Hauptstadt Thimbu wird Frischfleisch geladen. Die Fleischbrocken werden auf dem Dach befestigt oder im Mittelgang verstaut. Ich fühle mich in diesem Bus voller Menschen, die manchmal zu viert auf zwei Sitzen untergebracht sind, umgeben von Handgepäck und Fleischstücken, wie die sprichwörtliche Sardine in der Büchse. Es ist so eng, dass ein einmal hingestellter Fuss nicht mehr in eine andere Position gebracht werden kann.


Von den Tropen zu den Schneebergen


Die Strasse führt von der subtropischen in die hochalpine Landschaft, auf kurvenreicher Strecke von einer Höhe von wenigen Metern über dem Meer bis hinauf über 3'000 Meter. Mein Fensterplatz gewährleistet eine abwechslungsreiche Fahrt. Nicht nur die Landschaft verändert sich, sondern auch die Gesichter der Menschen draussen wechseln vom indischen zum mongolischen Typ, und das Wetter variiert von dickem Nebel über strahlenden Sonnenschein bis zu kurzen Regenschauern. Wir begegnen Nomaden mit ihren Tieren, Strassenarbeitern und Bauern. Durch diese wechselnde Szenerie führt die Fahrt – unterbrochen von einigen Teepausen – zur Hauptstadt Thimbu. Seit kurzem. Seit kurzem gibt es auch eine Flugverbindung von Kalkutta nach Paro, der viertgrössten Stadt Bhutans.


Kleine Grossstadt Thimphu


In der Hauptstadt leben lediglich etwa 20’000 Menschen. Thimphu liegt in einem Flusstal auf einer Höhe von etwa 2’300 m ü. M. und gilt als Symbol des Fortschritts. Für europäische Begriffe ist sie eher ein Städtchen und hat eine einzige lebendige Hauptstrasse. Beidseits wird die Strasse durch kunstvolle Holzgebäude verschönert. Nicht nur die Bauweise, auch die Farbenprächtigkeit dieser Häuser, seien es nun Wohnhäuser, die Telefonzentrale, die Benzinstation oder das Feuerwehrgebäude, entzücken das Auge. Ein hübscher Basar, in dem tibetanische Flüchtlinge und bhutanische Familien in kleinen Läden Handel treiben, zieht sich diese Strasse entlang.


Auf mich macht die ganze Stadt den Eindruck einer grossen Fussgängerzone, sie lässt sich leicht zu Fuss bewältigen. Auf den zwei Kreuzungen an der Hauptstrasse kontrollieren seit einigen Jahren zwei Polizisten den spärlichen Verkehr. Zwischen den meisten Autofahrern und der Polizei scheint eine freundliche Beziehung zu bestehen, die durch gegenseitiges Grüssen zum Ausdruck kommt. Wer einem königlichen Wagen begegnet, hält an. Begegnet man aber gar dem offenen Jeep des Königs selbst, so kann man Augenzeuge werden, wenn ein Autofahrer aus seinem Wagen rennt, um sich dahinter zu verstecken.


Wer hier nach westlichen Vergnügen sucht, muss enttäuscht werden: kein Theater, keine Diskothek und nur ein Kino. Die wenigen Restaurants sind meistens leer; dafür gibt es viele barähnliche Trinkläden, in denen Tschang, ein einheimisches Bier, ausgeschenkt wird. Der niedrige Preis dieses Getränks mag der Grund sein, dass viele Menschen am Abend leicht angesäuselt durch die Strassen laufen. Ich traue meinen Augen nicht, als ich im Zentrum neben meinem Hotel ein Restaurant mit dem Namen „Swiss Bakery“ entdecke. Als ich aber aus Neugier den Besitzer frage, ob er Schweizer sei und deshalb sein Restaurant so benannt habe, reagiert er ungnädig. Meine neugierigen Nachforschungen ergeben später, dass dieser eingebürgerte Bhutaner tatsächlich ein früherer Eidgenosse ist und Turi Christen hiess. Nun will er nur noch als Tanzing Dorji angesprochen werden. Diese „Swiss Bakery“ ist ein Treffpunkt für die „besseren Leute“ in der Hauptstadt.


Vermissen wird man auch die Zeitungen, das Fernsehen und das Radio. An Zeitungen finde ich nur die indischen – mit zwei bis drei Tagen Verspätung. Seit einiger Zeit hat Bhutan aber eine eigene, wöchentlich erscheinende Zeitung mit dem Namen „Kuensel“. Sie wird in drei Sprachen, Englisch, Nepali und Dzongkha (der offiziellen Landessprache), mit einer Gesamtauflage von etwa 5’000 Exemplaren veröffentlicht. Trotz fehlender moderner Kommunikationsmittel leidet das Land nicht an Kommunikationsmangel. Noch immer werden Nachrichten von Mund zu Mund verbreitet. In diesem Sinn erfüllt der Sonntags-Gemüsemarkt eine wichtige Funktion. Mit seiner Buntheit und Lebhaftigkeit erinnert er mich an die Märkte der Südamerikanischen Indios.


Bauen ohne Nägel und Bolzen

In der Architektur des Landes scheint die Zeit stehen geblieben zu sein, oder sie geht nur in kleinen Schritten vorwärts. Auf diese Architektur können die Bhutaner besonders stolz sein. Harmonisch fügt sie sich in die Berglandschaft ein. Richtungweisend sind die Dzongs (Festungen), unerhörte Bauwerke, die ohne Nagel und Bolzen errichtet wurden. Die ältesten unter ihnen gehen auf den Anfang des 17. Jahrhunderts zurück. Es gibt keine Baupläne; das grosse Können wird von Generation zu Generation weitergeleitet, hauptsächlich – wie bei anderen Informationen auch – mündlich.


Alle Dzongs sind nach dem gleichen Prinzip geschaffen. Ihren Mittelpunkt bildet das Tempelzentrum, um das herum sich die Verwaltungsgebäude reihen. Die in Bhutan bestehende enge Verbindung zwischen Religion und staatlicher Verwaltung wird durch diese Anordnung versinnbildlicht. Das neueste dieser Bauwerke geht erstaunlicherweise erst auf das Jahr 1962 zurück. Es ist der Tashichdodzong von Thimbu. Etwa 2’000 Arbeiter haben während acht Jahren daran gebaut. Auch die Wohngebäude sind traditionsgemäss ohne Nagel und Bolzen erstellt. Sie sind meistens dreistöckig und gleichen unseren Chalets. Das Erdgeschoss dient je nach Bedarf als Verkaufsraum oder Werkstatt, und in ländlichen Gegenden sind dort die Ställe der Tiere eingerichtet. Im ersten Stock sind die Aufenthaltsräume, die Küche, das Vorratslager, und in den übrigen Stockwerken liegen die Schlafzimmer.


Bogenschiessen als Nationalsport


Auf meiner Rundreise durch Bhutan bin ich immer wieder auf eine Sportart gestossen: das Bogenschiessen. Zwar sind Fussball und Basketball ebenfalls sehr beliebt, aber Bogenschiessen bleibt doch der eigentliche Nationalsport. Wertkämpfe dauern manchmal tagelang und sind von Essen und Volkstänzen begleitet. Die Männer kommen in der traditionellen Kleidung, dem Kho, und bringen ihre eigenen Bogen ohne Zielfernrohre und ihre Pfeile mit. Abwechslungsweise wird von beiden Seiten des Platzes auf die gegenüberliegenden farbenprächtigen Zielscheiben geschossen. Diese Sportart wird ausschliesslich von Männern betrieben. Es gibt bei den Wettkämpfen viel Stimmung, hitzige Reden, Plaudereien, Schreie und Freudensprünge, denn jeder Wettkämpfer wird von Freunden begleitet, die ihn durch Zurufe ermutigen und seinen Gegner beschimpfen.

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