Wissen und Unwissen 4

DAS WISSEN DES YOGA

Was wir mit den anderen Organismen teilen ist ein Substrat, eine Matrix, im Vedanta Prakriti genannt. Je nach Beschaffenheit der Wahrnehmungsorgane extrahieren sie aus Prakriti eine Welt, ihre Welt. Artgenossen besitzen identische Wahrnehmungsorgane und haben deshalb das Gefühl, in der gleichen Welt zu leben. Dies genügt aber noch nicht, um eine Welt hervorzubringen, es braucht ein zusätzliches Element, dem Subjekt, welches die Welt wahrnimmt. Das Subjekt ist das individuelle Bewusstsein und wird im Vedanta Purusha genannt. Ohne Bewusstsein würde es keine Welt geben. Die den Saturn umkreisende Weltraumsonde „Cassini“ war mit „Wahrnehmungsorganen“ wie Kameras, Spektrografen, Magnetometer und Radarsystemen ausgestattet. Dies wären aber ohne Nutzen, wenn es auf der Erde nicht Wissenschaftler gäbe, welche die Daten interpretieren. Menschen verfügen über fünf Sinnesorgane (Jnana-Indriyas), fünf Handlungsorgane (Karma-Indriyas), dem Denkorgan (Manas) und dem Intellekt (Buddhi). Die Eigenschaften des Körpers, des Denkorgans und des Intellekts unterscheiden sich je nach Individuum. Auch Tiere verfügen über ein gewisses Mass an Individualität, wobei dies je nach Art verschiedentlich ausgeprägt sein kann. Bei Schwärmen und Rudel scheint sich das Individuum einer kollektiven Bestimmung unterzuordnen. Staatsbildende Tiere verfügen über gar kein Individualleben mehr, sie sind nur noch ausführende Subjekte einer Art „Superorganismus“.


Bewusstheit ist das Ultimative, der Ursprung von Allem. Die individuellen Seelen (Jivas) sind Funken des Universalen, reinen Bewusstseins (Atman). Die phänomenale Welt der Namen und Formen (Nama Rupa) ist der schöpferische „Counterpart“ des Absoluten. Hier haben wir eine philosophische Knacknuss: Sind das Absolute und das Relative - Gott und die Welt - getrennt? Die Advaisten behaupten nein, es gibt keine Trennung, es scheint nur eine Trennung zu geben. Wenn sich eine individuelle Seele auf dieser Erde inkarniert, ist sie bei weitem kein unbeschriebenes Blatt. Sie hat bereits eine lange Geschichte hinter sich. Bei normaler Entwicklung nimmt sie die Formen und Strukturen des physischen Köpers und der irdischen Welt an. Für den Neugeborenen ist die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper eine grosse Herausforderung. Viele Erinnerungen gehen im Prozess der weiteren Reifung verloren. Obwohl die Ereignisse der ersten Monate für das weitere Leben äusserst prägend sind, kann man sich später nur selten daran erinnern. In den Naturwissenschaften sind Wahrnehmungsorgane und Intellekt die Ausgangpunkte zur Erforschung einer als extern wahrgenommenen Welt. Vom diesem Standpunkt aus bewegt man sich „horizontal“ und drängt immer weiter in die Geheimnisse des materiellen Universums. Prakriti ist ein schöpferisches Prinzip, das endlose Formen hervorbringt. Wir wissen nicht, ob es andere Universen gibt und wir wissen nicht, ob andere intelligente Lebensformen das Weltall bewohnen.Der Wissenschaftler hinterfragt nicht, wer das Subjekt ist und wie die Wahrnehmung zustande gekommen ist. Hier ist es, wo Yoga ansetzt. Es ist das Subjekt selber, welches Gegenstand der Forschung ist. Um überhaupt zu dem Punkt zu gelangen, in dem ein Subjekt eine objektive Welt wahrnimmt, sind vorrangig Prozesse abgelaufen, zu welchen die Naturwissenschaften keinen Zugang haben (siehe auch „Die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins“). Ohne es zu wissen, sieht, denkt und agiert der forschende Mensch in einer Bewusstseinsstruktur die das Ergebnis eines langen Entwicklungsprozesses ist. Denn letztendlich ist es das Bewusstsein, welches die Formen annimmt, in denen ein lebender Organismus funktioniert. Yoga ist „Arbeit“ am Bewusstsein. Ein Wissenschafter kann Spitzenforschung betreiben und im Privatleben ein Schurke sein. Die Eigenschaften seiner Persönlichkeit verhindern das logisch-mathematische Denken nicht. Beim Yoga können wir unsere eigene Person nicht auf der Seite schieben, ganz im Gegenteil: Sie ist Hauptgegenstand des Prozesses. Der vollendete Yogi ist der perfekte Mensch. Dies betrifft auch was wir als moralisch-ethische Ebene bezeichnen. Obwohl Moral im Yoga direkt keine Rolle spielt, ist Liebe, Betroffenheit, Mitgefühl für „Andere“ eine wesentliche Eigenschaft des perfekten Yogis. Der Grund dafür ist kein moralischer, sondern ganz einfach die Tatsache, dass Mitmenschen nicht mehr als „Andere“ wahrgenommen werden: „Liebe deinen nächsten wie dich selbst“, wie das Universale Selbst, das du geworden bist. Eckhart Tolle, der wohl grösste spirituelle Meister der Gegenwart, ortet das Übel der Menschheit in dem Zustand der Unbewusstheit, in dem sie sich befindet. Dies ist auch Gegenstand der Psychoanalyse, der Tiefenpsychologie: Unbewusstes bewusst machen. Für Patanjali ist der erste Schritt auf dem Yoga-Weg die Überwindung der leidvollen Mindveränderungen (Klishta Kleshas). Es handelt sich hier um die gröberen Emotionen wie Bindung und Abneigung (Raga-Dvesha). Das Mind ist von diesen Emotionen gründlich zu reinigen, bevor die nächsten Stufen erklommen werden können. Hierfür empfiehlt Patanjali die Methode der Konzentration (Pratyahara, Dharana). Durch Emotionen wird das Mind getrübt und geschwächt, durch Konzentrationsübungen fokussiert und gestärkt. Für viele Menschen ist bereits diese erste Stufe eine riesige Hürde, die kaum zu überwinden ist. Hier ist es jedoch wo Yoga, die Wissenschaft der Wirklichkeit, beginnt.


Im Yoga-Prozess findet eine innere Umwandlung des Bewusstseins statt, mit Auswirkung auf die Struktur der Person, des Ichs als wahrnehmendes Subjekt. Gleichzeitig verändert sich die wahrgenommene Welt. Nach der Überwindung der leidvollen Mindveränderungen befasst man sich mit den leidlosen Mindveränderungen (Aklishta Kleshas). Hier geht es darum, die Wahrnehmung der Welt der Objekte, der materiellen Welt, zu überwinden und zur Essenz der Dinge vorzustossen. Wenn sich die Welt der Objekte auflöst, dann verschwindet auch das mit ihr verbundene Wissen. Unwissen (Avidya) muss weichen, um dem wahren Wissen (Vidya) - dem Wissen der Wirklichkeit - Platz zu machen. Gemäss Patanjali offenbart die Prakriti bei fortscheitendem Aufstieg des Geistes eine subtilere Form der Objekte, Tanmantras genannt. Dieser Schritt bedeutet nicht eine Abkehr dessen, was wir üblicherweise als Wirklichkeit bezeichnen, auch nicht eine „Flucht“ in ätherische Welten. Ganz im Gegenteil: Je mehr sich das Mind von den Kleshas befreit, desto stärker wird die Empfindung von Wirklichkeit. Wir werden nicht in eine andere Realität, in eine andere Welt versetzt, sondern es ist die Welt, die wir bis anhin gekannt haben, aber in einer anderen Form, in der Originalform. Es sind sogenannte „Aha-Erlebnisse“: Man erkennt das, was schon immer war, was wir eigentlich immer gewusst hatten, aber aufgrund der Trübung der Kleshas vorübergehend vergessen hatten.


Hier scheint die moderne Wissenschaft definitiv abdanken zu müssen. Da keine Objekte mehr wahrgenommen werden, verliert sie ihre Forschungsgrundlage. Dennoch… im Bemühen, die letzte der vier grundlegenden Kräfte des Universums – die Gravitation – im Standardmodell der Kosmologie einzubauen, haben die Physiker auf theoretischer Ebene weiter geforscht. Entstanden ist die Superstringtheorie, die ein multidimensionales Universum mit elf Dimensionen postuliert. Superstrings sind subtile Schwingungen, die je nach Energiemuster die physischen Elementarteilchen – Leptonen, Quarks und Photonen – hervorbringen. Könnte es somit sein, dass die Theoretiker den Tanmantras auf der Spur sind?


Wie es ab hier auf dem Yogaweg weiter geht, kann unter „Das Endziel des Yoga“ nachgelesen werden. Laut Patanjali sind aber auch die Tanmantras zu überwinden, bis nur noch das reine Bewusstsein, Brahman, besteht. Swami Krishnananda betonte immer wieder: Wer die Welt sieht, kann Gott nicht sehen, und wer Gott sieht, kann die Welt nicht mehr sehen…

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