Die Semai (2)

​Diese friedliche Gesellschaft, in der sich die Menschen ohne Polizei, ohne Autoritäten und ohne Gerichte gegenseitig leben lassen, steht aber auch mit ihrer Umwelt im Einklang – oder umgekehrt: Die gerodeten kleinen Flächen der Semai-Grabstockplantagen werden vom Urwald innert zehn Jahren wieder überwuchert. Gegenüber der Tierwelt des Regenwaldes gilt das Semai-Prinzip der Nichteinmischung ebenso wie unter den Menschen. Und in ihren Bewusstseinsüberlieferungen erscheint der Mensch nicht als Beherrscher des Urwaldes, sondern als integrierter Teil der gesamten Pflanzen- und Tierwelt. „Defekte, wie und wo immer sie auftreten, werden von noch intakten Dorfsystemen niemals ausgelöst“, stellt denn auch der bundesdeutsche Wissenschafter Dietrich Kühne in seinem umfassenden Werk über die Geographie und Wirtschaft Malaysias fest: „vielmehr bilden solche Dorfsysteme ein äusserst ausgewogenes Lebensgefüge, in dem Umwelt, Produktionsweise, soziale Organisation und Bevölkerungsdynamik perfekt aufeinander abgestimmt sind. Ungestört sind sie absolut umweltfreundlich“.


In weiten Teilen ihres Gebietes haben Semai die Chance, noch lange ungestört zu bleiben. Wo sie leben, bedeckt nämlich dichter tropischer Regenwald steil abfallende, zerklüftete Flusstäler. Während der Regenzeit verwandelt sich der rötliche Boden in eine glitschige Paste, auf der man bloss mit nackten Füssen oder mit Fussballschuhen weiterkommt. Dieses „starke Gelände“ schützt den Wald und seine Bewohner von Holzfällergesellschaften, die in Malaysia einen wichtigen Wirtschaftszweig darstellen, rund 10’000 Personen beschäftigen und jährlich gegen 30’000 Tonnen Holz schlagen: Im Semai-Land wäre der Strassenbau für den Abtransport des Holzes meist zu kostspielig. Und die malaysische Regierung, der die gesamten Tropenwälder gehören, hat jetzt bereits 1,9 der insgesamt 6.4 Millionen Hektaren Wald (48% des malaysischen Territoriums) unter Schutz gestellt, um die „Wasserversorgung, die Bodenfruchtbarkeit sowie die einzigartige Fauna und Flora des Landes zu schützen“, wie es in einem Regierungsbericht heisst. Gewinnbringend abbaubare Bodenschätze gibt es im Semai-Land ohnehin nicht.


So hat die Regierung in Kuala Lumpur denn auch andere und wichtigere Sorgen als die Integration der Sami und anderer Orang Asli (Waldmenschen) in die Industriegesellschaft. Immerhin: Beim zentralen Orang-Asli Departement betont man, Schulung, Förderung und Entwicklung sowie Integration der Waldmenschen seien die Hauptaufgabe dieser Verwaltungsstelle. Es gebe auch bereits Semai-Lehrer, und im 58köpfigen Senat des Landes sitze immerhin ein Orang Asli. An- und Umsiedlungsprogramme für Orang Asli versuchte die Verwaltung auch schon durchzuführen. In weiten Teilen des Regenwaldes beschränkt sie sich jedoch auf eine ambulante medizinische Versorgung der Ureinwohner und ein mehr oder weniger erfolgreich angebotenes Schulprogramm. Die Integration der Semai vollzieht sich so mehr schleichend als planmässig. Sie beginnt meist damit, dass Orang Asli wachsende Teile ihrer Feldfrüchte und Jagdbeute den wenigen Urwaldstrassen entlang fahrenden Händlern verkaufen und von ihnen Zigaretten, Limonade, aber auch etwa Nägel und Werkzeuge für den Hausbau sowie Kleider kaufen. In dieser ersten Phase der Akkulturation behalten sie ihre „shifting cultivation“ ebenso wie die meisten ihrer Sitten und Gebräuche.


Text: Niklaus Ramseyer / Tages-Anzeiger

Bild: Malekhanif at Malay Wikipedia - malekhanif@yahoo.com

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