Der Yogaweg gemäss Patanjali​ (Fortsetzung)

5 Pratyahara oder der Rückzug der Sinne


Pratyahara ist ein Bewusstseinszustand, in dem die natürliche, von der Vergangenheit angetriebene Neigung der Sinnesorgane, sich auf ihre korrespondierenden Gegenstände hinzubewegen, zum Stillstand kommt und die Sinne sozusagen im Geiste zur Ruhe kommen. Diese Ruhe ist das essentielle Wesen des Geistes. Wenn dies geschehen ist, erlangt man von selbst eine Beherrschung der Sinne. Diese entsteht, weil man sieht, wie und warum die Sinne sich immer wieder auf ihre eigenen Objekte zu bewegen. Sie tun dies, um dem "Sehenden“ Erfahrungen und Gelüste (bhoga) der objektiven Welt zu vermitteln. Wenn man Sinn und Zweck von bhoga voll erkannt hat, entfernt man sich von dem Hunger oder Durst nach immer neuen Erfahrungen und wendet sein Interesse auf die Befreiung.


6 Dharana oder Konzentration


Das Bündeln der Gedanken auf einen besonderen Punkt wird Dharana oder Konzentration genannt. Der Konzentrationspunkt kann alles Mögliche sein. In einem Abschnitt aus der berühmten Panchadasi erzählt Vidyaranya, dass selbst Spaten, Hacke, Schaufel, Bäume und Steine als Meditationsobjekte für Ishvara (Gottheit) dienen können, denn Ishvara hat all diese Formen angenommen. Gott, das vollkommene, allmächtige, allwissende Sein offenbart sich selbst in kleinsten Gegenständen, in den allerletzten Formen und auch in den schlimmsten Dingen. Wenn wir auf diese Weise die Vollkommenheit, Allmacht und Allgegenwart Gottes in Allem anrufen, zu ihm Vertrauen haben, sei es einen Stein oder irgendetwas Gottähnliches, auf das wir uns konzentrieren können, so macht dies nichts aus, denn Konzentration ist ein Prozess, bei dem wir den Knoten des Minds durchbrechen, durch den er in die Verwicklungen in Raum und Zeit verstrickt ist. Das Mind besteht aus dem Drang, sich nach Raum und Zeit hin zu orientieren. Es gibt letztendlich keine andere Instanz, als das Bewusstsein selbst. Das Mind existiert nicht wirklich. Wir wissen nicht, woher es kommt. Es ist irgendwie zutage getreten. Die Macht, mit der das Bewusstsein versucht, sich in Richtung auf die äusseren Formen zu bewegen, wird Mind genannt. Darum muss dieser Drang des Bewusstseins, sich nach aussen hin in Raum und Zeit zu bewegen, eingeschränkt werden. Der Konzentrationsprozess bremst diesen Impuls: Anstatt sich in Raum und Zeit zu verlieren, fokussiert sich das Mind auf den Konzentrationspunkt. Dies ist letztendlich sein Todesstoss. Das Mind besteht aus nichts weiter als einer Verbindung des Bewusstseins mit Formen, und diese Verbindung wird durch die Konzentration genauso zerstört, wie die Energie, die bei dem Beschuss eines Atoms durch Elementarteilchen freigesetzt wird. Dadurch wird eine immense Kraft freigesetzt. Das Mind ist die Saat kosmischer Kräfte. Das ganze Universum befindet sich im Mind, obwohl das Mind wie ein einziger Punkt aussieht. Die Praxis sollte täglich und ohne Unterbrechung fortgesetzt werden. Dann wird sie zu Dridha-bhumi: man wird ein Teil der Praxis.


7 Dhyana oder Meditation


Der Mensch sieht die Objekte nur, wenn seine Sinne tätig sind. Aber wenn sie aufgrund der Praxis von Pratyahara aufhören, sich zu betätigen und ihre Neigung, sich auf die ihnen eigenen Gegenstände zu bewegen, zum Stillstand kommt, wird die objektive Welt wie von allen Sinnesgegenständen entblösst. Aber auch wenn die Gegenstände wahrgenommen werden, nehmen sie den Geist nicht mehr in Anspruch: Dieser ist nun gänzlich damit beschäftigt, die der objektiven Welt zugrunde liegende Wirklichkeit zu entdecken. Es offenbart sich eine innere und äussere Leere. Der Geist hält sich in diesem weiten Raum auf, als wäre er dazu geschaffen worden, um diese einzige Erfahrung der Leere zu erleben. Eine Leere, die nicht nur frei von mentalen Bestrebungen ist, sondern auch frei von den Gegenständen, mit denen sich diese immer wieder identifizieren. Diese Leere ist erfüllt von ungeheurer Bedeutung. Sie ist wie der eigentliche Schoss der Wirklichkeit. Das Eingestimmtsein in dieser einzigen Erfahrung der reinen Leere wird Dhyana, Meditation, genannt. Wenn alle anderen Erfahrungen in die eine Erfahrung der völligen Leere eingehen, kommt die Zeit zum Stillstand. Man tritt ein in die Dimension der zeitlosen, ewigen Gegenwart.


8 Samadhi oder Erlösung


Wenn man nun in der Meditation gefestigt ist, in einer reinen Erfahrung ohne den, der erfährt, und ohne irgendein besonderes Kennzeichen oder Attribut, löst sich die äussere Welt faktisch auf: Es bleibt die leuchtende Objektivität in ihrer existentiellen Wahrheit. Dies ist Samadhi. Ein Mensch, der diesen wunderbaren Vorgang des achtfachen Yogaweges durchläuft, wird ein wahrhaft menschliches Wesen und sieht die Welt, wie sie ist, in ihrer existentiellen Reinheit. Er gründet auf seiner wesenhaften Identität, in der reines Sehen und wahres Tun sich verbinden. Eine solche sehende Tat ist eine neue Schöpfung. Sie ist fähig, die dunklen Mächte der Natur radikal zu verwandeln und zu selbstleuchtenden Kräften der Schöpfung umzuwandeln. Von nun an findet man sich einer anderen Welt gegenüber, einer Welt der Wirklichkeit in einer ganz neuen Dimension, die anders ist als die Welt, in der die Menschen hineingeboren werden.

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