Geschlechterrollen
Traditionelle andamanesische Gesellschaften kannten (und im Falle der Jarawas und Sentineler kennen immer noch) nur eine Rollenteilung: diejenige zwischen Mann und Frau. Die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern war klar definiert: die Männer jagten und die Frauen sammelten. Der Bau von Hütten erforderte die Kooperation beider Geschlechter, während jedes Geschlecht seine eigenen Werkzeuge anfertigte. Die Männer bereiteten im Rahmen von Festen die gemeinsamen Mahlzeiten vor, während die Frauen für das tägliche Kochen zuständig waren. Brennholz wurde lediglich von den Frauen eingesammelt. Ausserhalb des täglichen Lebens spielten die Frauen eine vornehmliche Rolle bei Friedensverhandlungen: Kämpfen war Sache der Männer, Frieden stiften diejenige der Frauen. Lokale Feindschaften konnten nur unter Mithilfe der Frauen beigelegt werden. Männer waren – auch bei Unterlegenheit – unfähig, ihre Niederlage zuzugeben und Frieden zu schliessen.
Das Familienverständnis der traditionellen Andamaner unterscheidet sich grundlegend von demjenigen anderer Gesellschaftsformen. Es war in der Tat einmalig. Urvölker neigen dazu, komplizierte Klassifikationssysteme zu entwickeln, mit entsprechend ausgeklügelten Bezeichnungen für die Verwandtschaftsbeziehungen. Diese basieren oft auf dem Konzept des Clans und können Komplexitätsgrade erreichen, bei denen es einen modernen Stadtbewohner, der schon Mühe hat, zwischen Vettern und Neffen zu unterscheiden, schwindelig werden kann. Menschliche Gesellschaften nehmen die Familie - Personen aus gleichem Blut - in der Tat sehr ernst. Nicht so bei den Andamanern: deren Begriff für Familie bezog sich lediglich auf die Kernfamilie Vater, Mutter und Kind und sogar diese wurden durch die lokale Gruppe bis zur Unkenntlichkeit überschattet. Zum Beispiel wurden Grosseltern als eine andere Familie betrachtet. Unter diesen Bedingungen dürfte es wenig erstaunen, wenn es in den andamanesischen Sprachen nur wenige Begriffe hat, die Familienbeziehungen bezeichnen. Die andamanesischen Sprachen sind die einzigen, die keinen geeigneten Begriff für die Wörter „Mutter“ und „Vater“ haben. Die dazu benutzten Wörter sind eher allgemeine Begriffe der Ehre und des Respekts.
Kinder wurden von den Mitgliedern der lokalen Gruppe geliebt, verhätschelt und verwöhnt. Sie konnten zwar für schlechtes Verhalten gemassregelt werden, bestraft wurden sie aber nie. Die Kindheit endete mit dem Aufkommen der Pubertät, gewöhnlich mit fünfzehn Jahren für beide Geschlechter. Zeremonien mit strengen Prüfungen mussten bestanden werden, bevor die Jugendlichen als Erwachsene anerkannt wurden. Die Burschen zogen in ihre eigene Junggesellenhütte und hatten bis zur Heirat für die eigenen Mahlzeiten selber zu sorgen. Die Mädchen lebten bei ihren Eltern, den biologischen oder den Pflegeeltern. Kinder waren der Hauptgrund für das Heiraten; eine Heirat galt erst als vollzogen, als das erste Kind geboren war. Die Kleinkinder wurden von der Mutter und manchmal auch vom Vater in mit Baumrinden angefertigten Schlingen herumgetragen. Sobald sie gehen konnten, genossen sie ein hohes Mass an Freiheiten. Die traditionellen Geschlechterrollen wurden bereits in frühem Alter eingeübt. Die Väter fertigten Spielpfeile- und bögen für ihre Söhne an und als diese das Alter von sechs Jahren erreichten, durften sie die erwachsenen Jäger auf deren Streifzüge begleiten. Die Mädchen gleichen Alters wurden von ihren Müttern beim Sammeln mitgenommen. Sie lernten zwischen giftigen und essbaren Nahrungsmitteln zu unterscheiden, Gemüse zu suchen, Fische zu fangen und mögliches Essbares auf den Riffen und Stränden einzusammeln. Neben diesen ernsthaften Kinderspielen durften sie auch frei herumtollen, in der Umgebung des Dorfes und auf den Stränden spielen, wie es die Kinder aller Länder gerne tun. Die Kinder der Küstenbewohner verbrachten mehr Zeit im Wasser als auf dem Festland und lernten das Schwimmen zur gleichen Zeit wie das Laufen.
Eine Eigenart aller andamanesischen Stämme war deren Gepflogenheit, Kinder zu adoptieren. Es war absolut üblich, dass Eltern ihre sechs- bis zehnjährigen Kinder zur Adoption freigaben. Die Geburtenrate ist auf den Andamanen scheinbar immer sehr niedrig gewesen. Folglich wurden die Kinder sehr geliebt und gewertschätzt. Waisenkinder wurden in der Regel von einer Familie derselben Stammesgruppe adoptiert und von allen als die eigenen Kinder der Adoptivfamilie anerkannt. Eine viel ungewöhnlichere Form der Adoption fand statt, wenn ein Paar ihr Kind an ein Paar einer anderen Stammesgruppe abgab und dabei ein Kind eines dritten Paares adoptierte. Kinder, die auf diese Weise adoptiert wurden, konnten innerhalb der Adoptivfamilie heiraten. Sie konnten auch weiteradoptiert werden, ohne dass die biologischen Eltern dazu ein Sagen hatten. Paare konnten so viele Kinder adoptieren, wie sie es wünschten; es wurde von ihnen jedoch erwartet, dass sie diese mit Rücksicht und Güte behandelten. Im Gegenzug mussten die adoptierten Kinder ihren Stiefeltern denselben Respekt entgegenbringen wie dies gegenüber ihren biologischen Eltern der Fall war, was für die andamanesische Gesellschaft eine äusserst wichtige Gepflogenheit war. Gelegentlich wurden vorübergehende Adoptionen definitiv, wenn die biologischen Eltern das Kind nicht zurückforderten. Der Tausch von Kindern zwischen befreundeten Stammesgruppen erfolgte auf freundschaftlicher Basis und ohne irgendeinen Zwang. Jeder - inklusive die Kinder selber – betrachteten dies als völlig normal. Aufgrund der begrenzten Fruchtbarkeit ist anzunehmen, dass dieses unübliche Vorgehen auf weit entfernte Zeiten zurückzuführen ist. Es trug mit Bestimmtheit dazu bei, den Zusammenhalt zwischen den Gruppen zu stärken und Inzucht zu vermeiden.
Quelle: Webseite "Lonely Islands" von George Weber, frei aus dem Englischen übersetzt und teilweise ergänzt. Mit der freundlichen Genehmigung von George Weber.